Musik als Ermutigung zur freien Entfaltung der eigenen Phantasie

Anlässlich der Uraufführung von “Ströme” mit dem Philharmonischen Orchester Kiel führte die Dramaturgin Eva Heußel ein Gespräch mit dem Komponisten.

Herr Encke, Sie sind Komponist, Cellist und Dirigent. Welche Bedeutung hat für Sie Musik ganz allgemein im Leben der Menschen?

Für mich als Musiker ist Musik natürlich lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Darüber hinaus glaube ich, dass die Musik für jeden Menschen ein Raum sein kann, in dem sich seine Phantasie und Inspiration ganz frei entfalten kann: ein Raum der Freiheit, der keinerlei Begrenzung kennt, und in dem man sich vollkommen von den zahlreichen Zwängen des Alltags lösen kann. 

Was war Ihre erste Begegnung mit Musik?

Meine Eltern sind zwar keine professionellen Musiker, jedoch sehr musikliebend und singen z.B. beide in einem Kirchenchor. Für meine Mutter war es eine Selbstverständlichkeit, ihren Kindern das Erlernen eines Instruments zu ermöglichen, wobei ich – im Vergleich mit anderen Musikern – erst relativ spät, nämlich im Alter von 10 Jahren, zu meinem Instrument, dem Cello, gefunden habe. An dieser Wahl war im Grunde ebenfalls meine Mutter schuld. Als junge Frau hatte sie den berühmten Cellisten Enrico Mainardi im Konzert erleben dürfen und war davon so begeistert, dass sie sich schwor, eines ihrer Kinder solle unbedingt auch dieses Instrument erlernen. Ihr Wunsch ist – zum Glück – „gut ausgegangen“, denn ihre Begeisterung hat sich auf mich übertragen, und ich liebe das Cellospiel nach wie vor sehr. Ich möchte es auch heutzutage keinesfalls missen und freue mich sehr, wenn ich nach Zeiten intensiver Kompositions- und Dirigiertätigkeit wieder zum Cello greifen kann.    

Wollten Sie von Anfang an auch Musik erfinden oder hat sich der Kompositionswunsch erst nach und nach entwickelt?

Das ist eigentlich eine ganz lustige Geschichte. Während meiner Zeit bei der Bundeswehr habe ich mit zwei Musikerkollegen auf einer Stube gehaust. Da wir uns manchmal etwas langweilten, und es andererseits für unsere Besetzung – zwei Celli und eine Bratsche – fast kein Repertoire gab, beschlossen wir, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und haben spontan ein Stück komponiert, zu dem jeder von uns dreien einen Satz beisteuerte. Das war sozusagen der Start meiner Komponistenkarriere, denn nach diesem etwas kuriosen Beginn, habe ich nicht mehr locker gelassen, da mich das Handwerk des Komponierens sehr interessiert hat. Ich habe mich auch während meines gesamten Cellostudiums nebenbei immer dem Komponieren gewidmet, da ich stets das Bedürfnis hatte, noch näher an den Kern der Musik heranzukommen, noch direkter in den musikalischen Entstehungsprozess eingreifen zu können. Zwar habe ich kein offizielles Kompositionsstudium absolviert, dafür aber äußerst intensiv die Partituren der großen Meister analysiert, um von ihnen zu lernen. Ich bin also eine Art Quereinsteiger, wobei für mich ein ganz entscheidender Moment der Kompositionswettbewerb des Pablo Casals Festivals in Prades im Jahr 2005 gewesen ist. Als ich damals die Ausschreibung zu dem Wettbewerb in die Hand bekam, arbeitete ich gerade an einem Streichquartett und beschloss, diesen Wettbewerb als ein sanftes Druckmittel zu benutzen, das Quartett auch wirklich zu beenden, denn es passierte in jener Zeit öfter, dass meine vielfältigen anderen Aktivitäten und Verpflichtungen die Fertigstellung meiner Kompositionen immer wieder hinauszögerten. Dieser „Trick“ hat dann tatsächlich funktioniert, ich konnte das Quartett einschicken und habe damit – völlig überraschend – sogar den Wettbewerb  gewonnen. Erst dieses Ereignis hat mich auch als Komponist sozusagen in die Öffentlichkeit katapultiert, und seitdem hat sich meine Kompositionstätigkeit ganz kontinuierlich und intensiv weiterentwickelt.

Herr Encke, Sie waren u.a. mehrere Jahre erster Solocellist im Philharmonischen Orchester Gera. Können Sie beim Komponieren von Ihrer Orchestererfahrung profitieren? 

Unbedingt! Ich denke, das hat mir sehr geholfen, die ganze Materie gewissermaßen von innen heraus kennenzulernen. Bei den Proben habe ich z.B. ganz bewusst darauf geachtet, mit welchen Techniken man bestimmte Klangergebnisse erzielt oder wie unterschiedliche Instrumentenkombinationen wirken. Außerdem habe ich fleißig meine Orchesterkollegen „genervt“, indem ich sie über die Möglichkeiten und Eigenarten ihrer Instrumente regelrecht ausgequetscht habe. Ich würde jedem angehenden Komponisten empfehlen, nach Möglichkeit selbst im Orchester und in verschieden besetzten Ensembles zu spielen.

Beeinflusst auch die Tätigkeit als Dirigent Ihre Kompositionsweise?

Ich denke schon. Das bedingt sich ja alles gegenseitig: das Komponieren, das Dirigieren und das Musizieren mit dem Instrument, und wenn ich dirigiere, erfahre ich noch einmal von einer ganz anderen Seite, wie ein Ensemble funktioniert, wie beweglich es sein kann, und natürlich, wie auch der Dirigent ein Werk durch seine Interpretation prägen oder sogar verändern kann. Dabei interessiert mich der Aspekt der musikalischen Freiheit sehr. Deshalb arbeite ich als Komponist gerne mit aleatorischen Momenten, die das musikalische Material flexibel halten.

Gibt es, Ihrer Meinung nach, „gute“ und „schlechte“ Musik?

Das ist eine relativ schwierige Frage, da in der Kunst ja sehr viel von dem individuellen Geschmack des Einzelnen abhängt. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass interessanterweise gerade die Stücke, die mir beim ersten Hören als äußerst komplex, vielleicht sogar unzugänglich erschienen, später zu meinen Lieblingswerken wurden. Ich glaube, dass Musik, die sich einem zu leicht und völlig ohne aktives Zuhören erschließt, auch ziemlich schnell wieder verblasst und unter Umständen sogar langweilen kann, während Musik, die differenzierter angelegt ist, zwar mehr „Mitarbeit“ vom Hörer verlangt, ihm dafür aber viel mehr geben bzw. ihn viel stärker berühren kann.

Komponieren Sie in bestimmten Stilrichtungen?

Das kann man so eigentlich nicht sagen. Heutzutage stehen die Komponisten ja vor der Situation, dass von den detailliertesten Formen und Festlegungen bis hin zur größten kompositorischen Freiheit schon alles ausprobiert worden ist. Der große Vorteil für die Komponisten unserer Zeit besteht darin, aus der unendlichen Fülle jener musikalischen Erfahrungen schöpfen zu können. Auf der anderen Seite bedeutet genau diese Freiheit aber auch eine große Schwierigkeit, da man sich heute quasi bei jedem Stück, das man schreibt, als Komponist neu erfinden und seine eigenen Regeln neu festlegen muss, denn ohne Regeln kann aus einer derartigen Fülle nichts Kraftvolles erwachsen.     

Wie gewinnen Sie die Ideen zu Ihren Kompositionen – und ganz konkret: was hat den inhaltlichen Anstoß für Ihr neuestes Orchesterwerk Ströme gegeben?

Inspiriert werden kann man natürlich durch die verschiedensten Dinge, sei es die spezielle Atmosphäre bei einem Waldspaziergang, das Werk eines bildenden Künstlers oder eine bestimmte Stelle aus der Literatur, wie z.B. bei meiner neuen Komposition, die durch einige Zeilen des Gedichts Daystream von Günter Kunert angeregt wurde. 

Gibt es auch inhaltliche Zusammenhänge Ihrer Komposition mit den beiden anderen Werken unseres heutigen Konzertprogramms, also Bergs Violinkonzert und Schuberts Große C-Dur-Sinfonie?

Doch, ich habe schon sehr genau überlegt, was am Besten zu diesen beiden großartigen Werken der Musikliteratur passen könnte, und versucht, assoziative Verknüpfungen herzustellen. Die C-Dur Sinfonie von Schubert ist ja ein überaus strömendes Werk. 

Inwieweit bezieht sich die fertige Partitur noch auf das zugrunde liegende Gedicht Daystream? Würde die Kenntnis dieses Gedichts zu einem tieferen Verständnis Ihres Werks führen oder eher ablenken?

Ich glaube, der direkte Vergleich mit dem ganzen Gedicht würde den Hörer eher verwirren, da er wahrscheinlich nach einzelnen Querverbindungen suchen würde, die er möglicherweise nicht finden würde. Außerdem bin ich grundsätzlich der Ansicht, dass man der Musik ihre Wirkung einer imaginären Freiheit nicht nehmen bzw. diese allzu sehr einschränken sollte, denn das ist ja ihr ureigenster Bereich. So soll der Titel meiner Komposition, Ströme, eine gewisse Orientierungshilfe sein, mehr aber auch nicht, denn entstanden ist hier ein genuin musikalisches Werk, dessen Bestandteile man nicht auf einzelne Wörter oder literarische Vorgaben reduzieren kann. 

Im Grunde waren sogar nur wenige Zeilen von Kunerts Gedicht meine eigentliche Inspirationsquelle: „Unsichtbarer Saint Lawrence voller Stromschnellen – mit der harmonischen Dissonanz von Herzschlag und Beat – auf rotierendem Daystream“; also dieses Strömen des menschlichen Alltags in einer Großstadt, diese dadurch entstehende Walze hat ein sehr starkes Bild in mir ausgelöst. Dieses Bild ist dann vor allem in den mittleren Abschnitt meiner dreiteiligen Komposition eingeflossen. Man könnte diese drei Teile vielleicht den Begriffen stream of nature, daystream und stream of consciousness zuordnen.

Und wie drückt sich das in der Musik aus?

Der erste Abschnitt – sozusagen der stream of nature – hat einen etwas leichteren, unbestimmteren Charakter. Er beginnt sehr leise, behutsam und entwickelt sich dann stärker, etwa wie ein Bach, der allmählich zu einem großen Strom anwächst. Hier dienten mir übrigens auch Staren-Schwärme, die ich einmal in Mecklenburg beobachtet habe, als eine weitere Inspirationsquelle. Diese Starenschwärme sind ein wirklich faszinierendes Phänomen. Sie entstehen ganz plötzlich als dunkle Wolke am Himmel und bewegen sich rasant in eine Richtung, die sie in Sekundenschnelle verändern, wobei sie hin und wieder ihre Flugformation verändern. Wenn sie direkt über einem sind, ist das zudem akustisch ein einzigartiges Erlebnis.  

Der zweite Abschnitt von Ströme beginnt hingegen in klanglicher Hinsicht bereits viel dunkler, bedrohlicher und entwickelt sich dann ganz konsequent auf einen Höhepunkt – die Klimax des ganzen Stückes – zu.

Der dritte Abschnitt, den ich als „Arbeitshilfe“ stream of consciousness genannt hatte, bewegt sich schließlich in einer eher vergeistigten Sphäre, in die einerseits Reminiszenzen an die ersten beiden Abschnitte einfließen, die aber andererseits am Ende zum Erliegen der musikalischen Bewegung führt.  

Hat die große Besetzung ihres Werks, inklusive verschiedenster Schlaginstrumente, auch einen außermusikalischen Hintergrund? 

Die Vielfalt der unterschiedlichen Klangfarben und -kombinationen ist neben den rein musikalischen Aspekten auch ein Abbild der Vielfalt in der Natur. Die Welt ist ja erfüllt von den verschiedensten Klängen, die zusammengenommen fast selbst schon Musik ergeben. Mich als Komponisten reizt es dann besonders, immer wieder nach neuen, ungewohnten Klangerlebnissen zu suchen. 

Existieren in Ströme noch traditionelle melodische und tonale Strukturen?

Die gibt es in gewissem Maße schon noch. So kann man am Beginn der Komposition ein kleines Motiv in den Fagotten hören, das sich in unterschiedlicher Form durch das ganze Werk zieht. Zunächst wirkt es fragmentarisch, fast flüchtig. Im zweiten Abschnitt entwickelt es sich dann in recht kraftvoller Weise, während es am Schluss in einem Solo der Piccoloflöte noch einmal ganz zart wiederkehrt. Harmonisch gesehen existiert in Ströme durchaus eine gewisse Grundtonalität. Allerdings kann man diese nicht im Sinne von Dur oder Moll beschreiben. Man könnte eher sagen, es gibt hier einen bestimmten Grundklang, der variiert wird und sich durch das Werk zieht und dem Ganzen einen Rahmen verleiht.   

Arbeiten Sie hier auch mit modernen Spieltechniken?

Doch, durchaus. So entsteht die außergewöhnlich dichte musikalische Textur des Beginns beispielsweise durch Vierteltonpassagen der Streicher, und neben den Spieltechniken der klassischen Moderne wie sulponticello, gettato oder frullato habe ich u.a. bestimmte Geräuschtechniken der Holzbläser eingesetzt. Darüber hinaus gibt es in Ströme gemäßigt aleatorische Abschnitte, in denen jede einzelne Stimme ihr eigenes Metrum hat. Dadurch wird jede Aufführung des Werks ein kleines bisschen anders klingen, wobei sich der kompositorisch festgelegte Grundklang bei dieser Form der begrenzten Aleatorik nicht vollständig verändern wird.

Wie finden Sie es, wenn das Publikum in Ihre Werke seine ganz eigenen Geschichten hinein interpretiert, die eventuell weit entfernt sein können von Ihren Intentionen?

Das fände ich großartig, denn genau das möchte ich erreichen; ich möchte erreichen, dass sich jeder einzelne Zuhörer angeregt fühlt, seine eigenen Gedanken zu dem Stück zu entwickeln und nicht von vornherein hinsichtlich einer bestimmten Interpretation manipuliert wird.

Möchten Sie dem Publikum damit eine Art Botschaft vermitteln?

Ja, das könnte man so sagen. Gerade bei moderner Musik fühlt das Publikum oft eine gewisse Fremdheit, wenn es die neue Klangsprache noch nicht kennt. Insofern kann ein Titel, wie z.B. Ströme, zunächst eine gewisse Hilfe oder Anregung darstellen. Sollte jemand aber ganz andere Assoziationen beim Hören des Stückes haben würde ich das genauso begrüßen. Mein Wunsch als Komponist ist es vor allem, durch meine Werke die kreative und emotionale Phantasie meiner Zuhörer anzuregen, immer verbunden mit der Ermutigung, die Musik als einen Bereich zu nutzen, in dem die persönliche Freiheit grenzenlos ist.